"Kirche muss dieses zentrifugale Land zusammenhalten"

Propst Oliver Albrecht beim Vortrag über Glaube und Politik (c) Dekanat / Christian Weise

In einem leidenschaftlichen Impulsvortrag hat Propst Oliver Albrecht auf der Synode des Dekanats Rheingau-Taunus deutlich gemacht, dass es Aufgabe der Kirche sei, Verantwortung in der Gesellschaft zu übernehmen, die Stimme für die Sprachlosen zu erheben und „dieses zentrifugale Land zusammenzuhalten."

Gleichzeitig betonte er die Trennung von Staat und Kirche betont.  In einem Gespräch im hessischen Landtag, sei dem Propst für Rhein-Main vor kurzem freundlich und deutlich gesagt worden, dass, „die Menschen in unserem Land die Kirche dringender bräuchten, als das uns vermutlich klar sei.“ Wieviel Kirche braucht unser Land? fragte Oliver Albrecht deshalb die gut 80 Synodalen und Gäste der Synode.

Klar sei für ihn, dass es in einem Staat weder von Vor- noch von Nachteil sein dürfe, ob ein Mensch an Gott glaube oder nicht, so Albrecht. Schon die Bibel, sowie Augustinus und Luther machten deutlich, „dass Staat und Kirche zwei Reiche, Bereiche bleiben müssen.“ Selbstkritisch fügte er hinzu, „dass in der Vergangenheit dennoch gesegnet wurde, was um Gottes Willen niemals hätte gesegnet werden dürfen.“ Deshalb müsse man weiterhin jeder ideologischen Vermischung von Staat und Kirche kritisch gegenüberstehen. Gleichzeitig müsse jedem klar sein, „dass es zu den Grundaufgaben von Kirche gehört Gesellschaft mitzugestalten, ihre Stimme im Namen Gottes zu erheben und die Welt im Gebet vor Gott zu bringen.“

Es gäbe unterschiedlichste Meinungen, wie sehr sich Kirche politisch und gesellschaftlich einmischen solle. „Da gibt es die, die finden, Kirche sollte eben das nicht tun und sich ganz raushalten und auf den Glauben beschränken. Oder wir bekommen plötzlich Beifall von unerwarteter und doch falscher Seite: „Glaube, Heimat, Familie – da sind wir uns doch ganz einig, Herr Propst“ musste er sich neulich in einem Kreistag anhören. „Wir werden vor den Karren gespannt oder inzwischen auch offen bekämpft, nach einer Rede auf dem Römerberg bekam ich das erste Mal in meinem Leben Drohbriefe.“

Den Hasspredigern nicht auf den Leim gehen

Deshalb bräuchten die Menschen mehr denn je einen Raum, der „Herz und Verstand klar und froh macht in diesen aufgewühlten Zeiten“, analysierte der Seelsorger von etwa 450 Pfarrerinnen und Pfarrern in der Region Rhein-Main. Die Stimmung, in vielen Nationen, sei an einen Wendepunkt angekommen, die Stimmung sei an einem Kipppunkt: „Etwa in „Polen, Russland, Ungarn, Italien, Österreich und jetzt auch in den USA. Sie rufen „Werte“! aber predigen die Abwertung von allem, was ihnen fremd ist.“

Inständig bat der Propst gerade konservativeren Glaubensgeschwister darum: „Geht diesen Hasspredigern nicht auf den Leim.“ Ein geistlicher Neubeginn sei unbedingt notwendig, aber keine „Retronummer“ der vergangenen Zeiten.

Nicht nur dem einzelnen Christen, sondern auch der Kirche sei es aufgetragen, in dieser Welt Gutes zu tun, spontan und individuell. Bereits die ersten Gemeinden und die frühe Kirche errichten Herbergen, stellten Diakone ein, bauten die ersten Krankenhäuser der Antike und führten überregionale und langfristig organisierte Armenspeisung durch. „Ein Vorläufer der Tafelbewegung bereits um das Jahr 300 nach Christi.“ Aus dieser „organisierten Nächstenliebe“ seien auch Diakonie und Caritas erwachsen. „Hier entsteht, was dieser Welt um Gottes Willen ein menschliches Gesicht gibt.“ Viele der heutigen sozialen Einrichtungen seien „kirchliche Erfindungen“, wie etwa die Arbeit mit Behinderten, die Seelsorge an Gefangenen, die Bahnhofsmission, Kindergärten, Flüchtlingsbetreuung, die Neuentdeckung der Tafelarbeit oder Hospize für Sterbende.

„Gute Diakonie ist immer politisch“ - Prinzip der Subsidiarität

„Armut ist ein politisches Thema und wenn wir Tafelarbeit machen, dann nicht um die Armut zu kaschieren, sondern um sie aus der Anonymität zu holen!“, rief er den Synodalen zu.

Anders als beispielsweise in den Vereinigten Staaten entbinde die Kirche dem Staat aber nicht von seinen sozialen Verpflichtungen. Sondern Kirche und Diakonie springen nach dem Prinzip der Subsidiarität in die Bresche so lange, bis der Staat reagiert. „Wir helfen in der Not, aber nicht um Unrecht zu stabilisieren, sondern zur Sprache zu bringen. Gute Diakonie ist immer politisch.“ Das bedeute aber auch, dass sich Kirche und Diakonie für ihre Ausgaben entschädigen ließen „aber nicht korrumpieren.“ Propst Oliver Albrecht führte als anderes Beispiel an, dass er es für absolut angemessen halte, „dass ein Sportverein, der engagiert über den Sport hinaus für die Kinder und Jugendlichen eines Ortes da ist, keine Hallenmiete zahlen muss oder Zuschüsse bekommt, auch von den Steuergeldern derer, die sich nur für sich selbst interessieren.“ Und wenn eine Kommune, die eine bestimmte Anzahl von Kita-Plätzen vorhalten müsse, dafür aus Gründen der Kostenersparnis andere Träger wie den ASB oder eben auch die Kirche suche, sei das auch in Ordnung, wenn sie sich an den Kosten dieser Träger beteilige.

Kirche erhebt Stimme für die Sprachlosen

Es sei die prophetische und vielleicht sogar historische Aufgabe der Kirche, „dieses zentrifugale Land zusammenzuhalten.“ Man müsse als Kirche noch viel schärfer „den demographischen Wandel und den Strukturwandel, die Zentralisierung in Ballungsräumen, und somit die von der Entwicklung abgehängten Regionen im Osten und Norden, aber auch bei uns in den ländlichen Regionen, in den Blick bekommen und die Stimme für die Sprachlosen erheben.“

Eine Analyse der Bundestagswahl habe gezeigt, „dass diese seltsame fremdenfeindliche Partei am erfolgreichsten auf Stimmenfang in Gegenden gegangen ist, wo gar nicht so viele Fremde leben, sondern in den Regionen, die sich abgehängt fühlen.“

Christen dürften sich deshalb nicht zurückziehen „in Tagungshäuser und Wohnzimmer. „Es ist vielleicht die letzte Chance - in neuer Form - in der Fläche präsent zu bleiben. In Nachbarschaftsräumen und mit Teams eine neue Kirche nahe bei den Menschen bauen und eben nicht den Rückzug antreten.“ So wandle sich die Eingangsfrage Wieviel Kirche das Land brauche in die Frage „Welche Kirche braucht unser Land?“

Dazu brauche es ganz neue Formen von Partnerschaften, konstatierte der Propst. Etwa in dem man im Gebet miteinander teile, was es heiße, in einem Ort zu leben, in dem vor langem schon Firmen, Filialen und Werke geschlossen hätten“, erklärte der Propst für Rhein-Main. Dabei sei das Gebet keine Weltflucht, sondern bedeute „diese Welt vor Gott zu bringen. Hier kommt Gott selbst ins Spiel. Nur wer betet, bekommt Kraft zum Kämpfen“, betonte Oliver Albrecht vor den gut 70 Vertretern aus der Region.