Menu
Menü
X

Kirche ohne Geld

Nachkonstantinische Impulse

In der Kirche war früher nicht alles besser. Und es wird es auch nicht immer durch unser Planen und Organisieren. Meine Überzeugung ist es, dass sich die entscheidende Veränderung für die Kirche erst in der Wiederkunft Christi vollzieht. Bis dahin sollen wir unsere Sache so gut machen, wie wir können, in der fröhlichen Demut, dass die Kirche durch uns weder gerettet noch zerstört werden kann. Meine Gedanken gehen daher eher in die Richtung Schleiermachers „Darstellung des theologischen Studiums“, wo er 1811 entwickelte, wie die Theologie erstes und wichtigstes Instrument der Kirchenleitung sein muss. Meine nicht nur historische Frage ist: Wo haben wir auf unserem Weg durch die Jahrhunderte Elemente als Paradigmen kirchlicher Existenz verloren, die vielleicht wesenhaft zur Kirche gehören, uns zumindest in der gegenwärtigen Krise aber Impulse geben könnten? Ich nenne exemplarisch drei Formen von Kirche, die sich relativ früh ausgebildet und entwickelt haben, so in dieser Form in den Evangelischen Kirchen Deutschlands aber kaum noch zu finden sind. Meine Fragerichtung ist dabei in doppelter Hinsicht offen: Ich möchte mit diesen Exempeln einerseits nicht behaupten, irgendeinen Schlüssel gefunden zu haben, sondern lediglich einladen, in diese Richtung einmal zu denken. Mir geht es andererseits nicht um irgendeine Wiederherstellung durch Erforschung angeblicher Urzustände, sondern um Impulse zur Transformation. Die drei vergessenen Formen der Kirche sind für mich in unserer gegenwärtigen kirchlichen Kultur die Wanderprediger, die Hausgemeinde und die Klöster. Inspiriert haben mich die Gedanken von G. Theissen, H.-J. Klauck, B. Jaspert und J. Halkenhäuser.


I. Wanderprediger*innen

Jesus selbst greift die jüdische Tradition des heimat- und besitzlosen Wanderpredigers mit seinen nomadischen, prophetischen, aber etwa auch rechabitischen Wurzeln auf. Über den Kreis der 12 werden es die Zahl der mehrfach genannten 70 Jünger*innen gewesen sein, die diese Tradition nach Ostern nicht als Vorform (wie Harnack in Fortführungen auch katholischer Kirchengeschichtsschreibung denkt), sondern als vollgütige Form von Kirche fortsetzen. Ihre mündliche Überlieferung hat über die Logienquelle Q vor allem im Matthäus- und Lukas-Evangelium Eingang in das Neue Testament gefunden. Kennzeichen ist eine radikale und konsequente Theologie – wie etwa in der hier beheimateten Bergpredigt oder der sogenannten Aussendungsrede Matth.10 – die später bestenfalls als provokant und jedenfalls schwer einlösbar gesehen wurde. Das hat seinen Grund in der Lebensform der Menschen, für die diese radikalen Jesus-Worte theologische Deutung ihrer heimat- und besitzlosen Existenz waren. Sie sind von Christ*innen, die mit ihrer Familie und anderen Menschen in einem festen Haus lebten und durch Erwerbstätigkeit einen mehr oder weniger bescheidenen Besitz angesammelt haben, nicht mehr zu „erfüllen“. Das Neue Testament lebt produktiv von dieser Spannung, nicht nur in den Evangelien, sondern etwa auch in den Briefen des Paulus, der ja in veränderter Form dann doch auch ein Wanderprediger mit lediglich etwas größerem Radius war. Wie in Jesu Zeit die Frauen, waren es nun sesshafte Christ*innen, die gleichsam die materielle Basis der Wanderprediger bildeten. Wenn es in deren Überlieferung „Überlebenssätze“ wie „Klopfet an, so wird euch aufgetan“ gibt, muss es auf der anderen Seite der Türen ja auch Christenmenschen gegeben haben.


Wir dürfen annehmen, dass sich sesshafte und wandernde Christ*innen als Team in dem Projekt verstanden, das Evangelium in die Dörfer und Städte zu bringen, was die Wanderprediger*innen tun ist Arbeit und die ist ihres Lohnes wert. Ihre Linie setzt sich fort in den Wandermönchen, versiegt dann aber irgendwann. Im Kontext evangelischer Landeskirchen sind mir bis auf die Camping- und Schaustellerseelsorge kaum Existenzen von Wanderprediger*innen bekannt. Und diese haben eben gerade ebenfalls dauerhaft oder temporär Wandernde ohne festen Wohnsitz im Blick. Wie wir gesehen hatten, ging die Faszination der Wanderprediger*innen im Zusammenspiel mit sesshaften Christ*innen gerade davon aus, dass die radikale Form der Botschaft Jesu weiter gelebt werden konnte. Vielleicht – so sage ich in großer Vorsicht und Demut und Kritik zuerst an mir selbst – fehlen unseren Kirchen heute Menschen, für die Bergpredigt und Matth.10 Lebensrealität sind und die Kraft schöpfen aus diesen kraftvollen Worten – und nicht meinen, vor ihnen Angst haben zu müssen und sie deshalb nur in symbolischer Deutung ertragen. Wir können hier nichts übertragen und nachmachen. Aber wir dürfen neu fragen, wo die Orte in unserer Kirchen sein können für Menschen, „so mit Ernst Christ sein wollen“ (Luther), sind oder auf neue Weise entstehen können. Vielleicht noch stärker als in der Spätantike braucht nicht nur die Kirche mehr als eine Botschaft. Es wird um im Glauben gegründete Lebensformen gehen, die jetzt schon zumindest exemplarisch die Komfortzone verlassen. Wir könnten neben einer helfenden Kirche eine Kirche suchen, die selbst wieder glaubwürdig der Hilfe bedarf, neben einer Kirche mit vielen Gebäuden auch wieder anklopfende Kirche werden, angewiesen auf Wegzehrung für den nächsten Tag. Nach meiner Einschätzung könnte es Menschen geben, die sich zumindest auf Zeit und im Rahmen unserer Möglichkeiten auf so ein Experiment einlassen würden: „Wanderprediger*innen gesucht“. Und genauso könnte es Kirchengemeinden geben, die bei diesem Projekt gerne „Herberge“ wären. Weil es alte biblische Erfahrung ist, dass von den Fremden nicht nur „Impulse“ ausgehen, sondern tatsächlich Erlösung, Heil und Rettung kommen.


II. Hausgemeinde

„Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege“ hat Jesus zu dem mit ihm wandernden Predigenden gesagt und die haben das zu ihrem Leitbild gemacht (Matth. 8,20), aber tatsächlich war der Satz ein Türöffner für zumindest eine Nacht, zunächst für die mit jesuanischen Gedanken sympathisierenden „Hausbesitzer“, dann für die ersten Gemeinden, die sich nirgends anders als in ihren Häusern treffen konnten. Hausgemeinden (in der Tradition der Haussynagogen) waren zugleich Ziel und Stützpunkt frühchristlicher Mission und Lehre. Dabei waren sie keine private Sonderform neben der „eigentlichen“ Kirche, im 1. Korinther- und Römerbrief werden sie als „Kirche dem Haus nach“ bezeichnet und bilden den Grundstein weiterer Gründungen von Hausgemeinden vor Ort. Die Gottesdienste, die in den Hausgemeinden gefeiert wurden, bildeten alle Elemente späterer Liturgie und Predigt aus, waren aber auch noch stärker in die Abläufe häuslichen Alltags eingebunden. Das wie die sonst in den Häusern nicht anzutreffende plötzliche Heterogenität war Ausgangspunkt konstruktiver Konflikte. Die Diakonie etwa nahm ihren Anfang in der Hausgemeinde und Fürsorge nach außen wie Solidarität nach innen übten eine hohe Anziehungskraft aus: „Was muss das für ein Gott sein, wenn die Menschen so hier miteinander umgehen.“ Der Wachstum der Gemeinde erst führte zum Bau eigener kirchlicher Gebäude und der Übertragung des Kirchenbegriffs auch auf ein Gebäude. Vielleicht ist die Hauskirche von Dura Europos, die um 240 n.Chr. am oberen Euphrat für 60 bis 70 Personen eingerichtet wurde, an der Schnittstelle dieser Entwicklung zu sehen.

Hausgemeinden entwickelten sich in der Folge zu einer Nebenform der Kirche, in der Regel nur noch in Bezug auf eine Ortsgemeinde mit ihren Kirchengebäuden denkbar. Heute erinnern etwa die Hauskreise im Pietismus oder Hauskirchen in China an diese neutestamentliche Form von Kirche. Die Evangelischen Kirchen in Deutschland leiden unter einem – vorsichtig formuliert – Überbestand an Gebäuden. Kirchliche Haushalte werden enorm belastet nicht nur durch Heizungs- und Instandhaltungskosten, viele Gebäude nur noch in großen Zeitabständen genutzt. Eine Einspardebatte dagegen wird durch die beschriebene Übertragung des Kirchenbegriffs belastet. Das Kirchengebäude ist unsere Kirche und Erfahrung mit christlicher Religion habe ich in meinen Gemeindehaus gemacht. Wie in einer Gegenbewegung ist dagegen praktizierter Glaube aus den Häusern „ausgezogen“ (KMU.V, Freiburger Studie). Gesang, Gebet und Bibellesen finden nur noch in den allerseltensten Fällen „zu Hause“ statt. Unser Bild von Kirche ist dann eher so: In einem mehr oder weniger gut besuchten Gebäude bieten Hauptamtliche ein christliches Programm an, an dem man teilnehmen kann („in die Kirche gehen“). Als das in Zeiten von Corona nicht möglich war, etablierten sich – wie ich finde relativ erfolgreich – neue Formen von Hausgemeinde. Mit in den Briefkasten eingeworfenen Liturgien und digitaler Unterstützung fand Kirche wieder zu Hause statt. Ein zartes Pflänzchen sicher nur, aber vielleicht auch eine Saat, die neue Frucht bringen kann. Es geht dabei auch darum, eine Antwort darauf zu finden, wie wir mit weniger Gebäuden Kirche bleiben können, gleichsam eine ekklesiologische Grundlage in den Häusern zu schaffen, um die Gebäudediskussion angstfreier und sachlicher führen zu können. Meines Erachtens geht es aber fast noch mehr darum, zu eigener praxis pietatis neu zu bevollmächtigen und Menschen wieder von Objekten religiöser Betreuung zu Subjekten ihrer eigenen Spiritualität zu machen. Martin Luther wusste, dass zu diesem Ziel kein Weg an den „Häusern“ vorbei führt.


III. Klöster

Was Luther meines Erachtens nicht richtig einschätzte, war die große Bedeutung der Klöster in diesem altkirchlichen Dreiklang. Sie entstanden nach Wanderpredigt und Hausgemeinde als notwendige Reaktion, um diese von Natur auseinanderstrebenden Tendenzen zusammenzuhalten: Christliche Existenz kann im Kloster radikal wie auf der Wanderpredigt und ortsfest wie in der Hausgemeinde gelebt werden. Für beides sind sie Korrektiv wie Bereicherung: Denn einen tieferen theologischen Sinn hatte der Streit zwischen den frühen Klöstern und den Wandermönchen im 7. und 8. Jahrhundert um die „stabilitas loci“ und „peregrinatio“, leider bisweilen zu polemisch geführt, oft aber in der Einsicht, dass das Kloster Aufbruch und Sendung braucht, der Wandermönch dagegen erinnert werden muss, dass sein Weg nicht das Ziel ist. Die Hausgemeinden dagegen finden in den Klöstern geistliche Orientierung und Vertiefung, wie sie die Kirche wohl an keinem anderen Ort so intensiv geben kann, die Klöster schließlich werden in den Hausgemeinden erinnert, dass ihre Bemühungen nicht in religiösen Leistungssport enden sollen – Luthers Kritik – sondern zu – um im Bilde zu bleiben – spirituellem Breitensport anzuregen haben. Interessant ist von daher, dass die neue evangelische Klosterbewegung – neben hochkirchlichen Ansätzen – als Kommunitäten vor allem der „Hausgemeinden-Szene“ erwachsen ist und seit einiger Zeit über Ausgründungen wieder in diese ausstrahlt. Ich möchte aktuell noch einmal über die gute Idee spiritueller Stadtkirchenarbeit oder Bildungsarbeit in schon seit längerem säkuralisierten Klöstern hinausdenken. Ich könnte mir „Kloster auf Zeit“ als interessante Perspektive (nicht nur) für unkonventionelle Biographien zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr vorstellen.

Meine Erfahrung mit Mehrgenerationenhäusern lässt mich vermuten, dass hier klösterliches Potential schlummert. Evangelisches Kloster im 21. Jahrhundert wäre in meinen Augen also keine weitere Angebotsform, sondern eine neue (und zugleich alte) christliche Existenzform. Sie könnte sich in benediktinischer Freiheit und franziskanischer Ethik realisieren. Was die Lebensformen betrifft, könnte man über die klassische Aufteilung in Frauen- und Männerklöster hinausgehen. Und das Besondere: Von ihren Anfängen bis ins 20. Jahrhundert waren Klöster wie in einem Labor Ort für die Suche nach Antworten auf Fragen der Zeit und Experimentierraum, wie Menschen leben und Gemeinschaft gestalten wollen, wenn die Welt in Bewegung oder gar aus den Fugen gerät. Ich meine: Es ist Zeit für neue Klöster. Wäre doch schön, wenn wir dieses Mal vorne mit dabei wären!

Fazit


Mir ist vollkommen klar, dass die meisten es – sehr zu Recht – als vollkommen absurd empfinden würden, irgendetwas für die Kirche ausgerechnet von dieser doch etwas sehr speziellen Trias zu erwarten. Dann bitte ich, das Gesagte einfach nur als Impuls für noch ganz andere Ideen „out of the box“ zu nehmen. Den Raum dafür, dass die Ideen ver-rückt sein dürfen, habe ich meines Erachtens weit gemacht. Wer dagegen noch ein Stück mitgehen möchte, bei denen werbe ich mit drei Gedanken:


- die genannte Trias ist ein explizit geistliches Programm. Sie schielt nicht sofort auf Mitgliedergewinnung und Haushaltssanierung, sondern fragt zunächst einmal, was Evangelische Kirche im 21. Jahrhundert soll. Und will.

- sie ist gleichzeitig (und das ist der Pfiff) ein Modell von Kirche, das mit relativ wenig Geld auskommt. Schließlich hat es sich bereit in einer Zeit bewährt, als gar kein Geld da war.


- sie könnte die gegenwärtige kirchenpolitische Diskussion aus bestimmten Sackgassen führen. Ich werde den Eindruck nicht los, dass wir nicht richtig weiterkommen, wenn wir weiter in den Polen „gemeindlich – übergemeindlich“, „fromm – politisch“ oder „mitglieder-/gemeinwesenorientiert“ etc. denken.

Nach meiner persönlichen Glaubensüberzeugung führt uns Gott nicht in Krisen, um uns auf die Probe zu stellen, demütig zu machen usw. Ich halte es für theologisch sinnvoller, in meinen Krisen mich und vor allem andere zu fragen: Wo hindern mich falsche Sehgewohnheiten, die Hand zu sehen, die Gott mir – eine ganze Weile schon – hinhält, um mich aus der Krise herauszuführen. So wünsche ich mir das Gespräch in unserer Kirche.

top